Sehnsucht und Grenzabenteuer

Kiko ist jetzt seit 9 Tagen mit Emma und Alex auf Reisen. Es gab immer wieder kleine Updates per Email, die ich neugierig verschlungen habe. Sorgen habe ich mir keine Sekunde lang gemacht, aber vermisst habe ich alle drei schon. Jeden Tag ein bisschen mehr. Natürlich war es auch mal schön, mir meinen Tagesrhythmus ganz frei einteilen zu können, und Heiko und ich haben unendlich viele Folgen Battlestar Galactica geguckt. Aber so seit vorgestern ungefähr hab ich jetzt das Gefühl, dass es wirklich lang genug war, und jetzt vermisse ich vor allem Kiko wirklich sehr.

Der geht es auf der Reise sehr gut, den Berichten nach. Sie fragt zwar so etwa einmal am Tag nach Heiko und mir, aber ist dann auch mit der Erklärung, das wir beide zuhause sind und dort auf sie warten sofort wieder zurfrieden. Gerade habe ich mit Alex und Emma telefoniert, und Kiko hat im Hintergrund rumgequatscht. Irgendwann hat sie mitgekriegt, dass Emma mich an der Strippe hat, und hat gefragt: Kommt Yuriko gleich? Da habe ich schon ein bisschen Sehnsucht in der Stimme gehört, und mein Herz hat doll geschlagen. Aber als Emma sie dann gefragt hat, ob sie mit mir telefonieren will, ist sie lieber wieder in ihr „Haus“ unter einem Café-Klappschild gekrochen, um weiter zu spielen.

Ein kleines Abenteuer gab es anscheinend bei einer Grenzkontrolle. Alex und Emma sind ja als Kikos Eltern nirgendwo offiziell eingetragen. Sie hatten Kikos Pass dabei und von Heiko und mir jeweils eine englische Vollmacht, sowie Kopien unserer Personalausweise. An einer Grenze gab es dann wohl sehr kritische Nachfragen und Nervenkitzel bei Emma und Alex, aber das weiß ich auch nur von einer Nachricht auf dem AB – vielleicht werden die beiden ja was davon erzählen, wenn sie morgen Abend zurück kommen.
Morgen Abend! Nur noch einmal schlafen! Juchhu!

Mami!

Yupp, jetzt hat dieses Wort doch Einzug gehalten bei uns, und zwar in seiner in meinen Ohren zweitfiesesten Variante: Mami! (Schlimmstfies: Mutti, Drittfies: Mama). Kiko hat einfach ganz von allein damit angefangen. Und ich versuche mich jetzt erstmal damit zu entspannen und zu beobachten, wann sie eigentlich wen damit bezeichnet, und was dieses Wort für sie eigentlich bedeutet. Und das ist schon ganz interessant: Sie nennt uns nämlich alle Mami, auch Heiko und Alex. Und zwar immer dann, wenn sie Unterstützung für irgendwas haben will. Oder wenn sie so ein bisschen müde ist und Aufmerksamkeit möchte. Und manchmal hört es sich vom Tonfall her genau wie „Manno!“ an, wenn sie sich über irgendwas ärgert. Bisher reagieren wir einfach alle darauf, und außer mir fühlen sich die anderen auch nicht so unbehaglich damit, glaube ich. Bin mal gespannt, wann der erste neunmalkluge Mensch Kiko drauf hinweist, dass dieses Wort nicht für Heiko und Alex benutzt werden darf, weil die ja ihre Papis sein müssen. Dass sie sich Mama vielleicht irgendwann angewöhnen würde, war zu erwarten, weil fast alle Kinder um uns herum ihre Mutter (und oft Hauptbezugsperson) so betiteln, woher sie jetzt aber das Mami hat…Könnte sein, dass es von Heiko und Emma kommt, die ihre Mütter nämlich so ansprechen. Es ist auch definitiv erst regelmäßig aufgetreten, seit Kiko mit Emma und Alex bei Emmas Eltern war.

Sie scheint mit dem Wort „Mami“ tatsächlich die Eigenschaften einer sich kümmernden Person ansprechen zu wollen, und das finde ich ganz schön bemerkenswert, dass sie diese Rolle und ihre Bedeutungen so zielsicher aus der Sprache um sie herum aufgeschnappt hat.Genderunterschiede, gemischt mit Rollen, scheint sie übrigens auch schon zu machen, so nennt sie nämlich Emma und mich öfter mal „Emmayuriko“ oder „Yurikoemma“, auch wenn sie nur eine von uns gerade meint. Mit Heiko oder Alex bin ich noch nie vermischt worden. Allerdings albert sie auch manchmal herum und bezeichnet alle als eine_n andere_n von uns und schmeißt sich dabei weg vor Lachen. Gerade weil sie eigentlich sehr klar hat, wer von uns wie heißt, finde ich ihre speziellen Misch- oder Rollenbetitelungen ja so interessant.

Sie benutzt Mami manchmal auch als Kosewort, wenn sie sich einkuschelt, und dann höre ich eigentlich gar nicht auf das Wort, sondern nur auf die Zärtlichkeit, die dann mitschwingt, und in dem Moment ist es mir auch sowas von egal, wie sie mich nennt.

Interessant ist auch, wie unterschiedlich Emma und ich auf das Mami reagieren. Während sich mir meistens die Fußnägel hochrollen, wenn ich so genannt werde, meinte Emma zu mir, dass es sie berührt und freut, wenn Kiko sie so anspricht und es für sie ein weiteres Puzzleteil in ihrer Co-Mutter-Identität ist. Darin liegen die kleinen, feinen Unterschiede, zumindest in unserer Co-Mütter-Konstellation und -Beziehung: Bei mir gibt es ein „ich bin Mutter“-Gefühl, ohne dass ich so genannt werde, und das hat sich sicher nicht nur durch Schwangerschaft, Geburt und Stillen eingestellt, sondern das wird mir auch von unserer Umgebung ganz selbstverständlich überall gespiegelt, dass ich Mutter bin. Subtil oder weniger subtil machen viele in unserem Umfeld manchmal schon noch graduelle Unterschiede zwischen Emma und mir. Und irgendwie ist es für Menschen, die uns neu kennenlernen, meistens auch sehr wichtig zu fragen, wer von uns die leibliche Mutter ist.

Schon wieder Abschied

Und eine Woche später (nämlich gerade eben) gibt’s den nächsten Abschied. Diesmal fahren A-lex und Emma nicht nur für ein Wochenende weg (das hat übrigens bestens geklappt), sondern gleich für 11 Tage. Irland. Mit Zug und Fähre! Ein Arbeitstreffen, zu dem sie Kiko mitnehmen. Diesmal geht Yuriko noch mit zur Bushaltestelle, Kiko sitzt in der Kraxe auf ihrem Rücken, als ich die vier von dannen ziehen sehe… Ich komme wirklich deswegen nicht mit zum Bus, weil mir das zu traurig ist. Die Vorstellung, dass Kiko dann im letzten Moment lieber bei mir und Yuriko bleiben will, statt mit A-lex und Emma in den Bus zu steigen, ist einfach zu krass. Wahrscheinlich wird das auch nicht passieren, aber vielleicht ist das Gegenteil auch nicht leicht zu ertragen. Das hatte ich jetzt in einer milden Form – ich hab mich noch von Kiko verabschiedet, als sie auf meinem Schoß saß und wir ein letztes Bilderbuch zusammen angeschaut haben, ganz entspannt und ausgeschlafen. Dann hab ich sie in die Kraxe gesetzt, ich hab A-lex und Emma gedrückt und kurz darauf sind sie schon alle weggestiefelt – Kiko voll zufrieden in der Kraxe; keine*r dreht sich nochmal um. Ganz offensichtlich kommt Kiko auch mit drei Eltern zurecht – ich war ja auch schon alleine mit ihr weg, da hat auch ein Elternteil gereicht. Ja, wir teilen unser Kind, und manchmal gibt es tatsächlich Situationen, da sind wir einzelne deshalb nicht so lebenswichtig für sie.

Große Momente

Die anderen sind weggefahren, ich bleibe alleine zu Hause. Kiko fährt mit A-lex und Emma nach München, Yuriko fährt zu einer Freundin in der Pfalz, ganz allein in Norddeutschland bleibt Heiko. Ein ganz komisches Gefühl zwischen Glück und Sehnsucht, eigentlich vielleicht Traurigkeit: Als wir auf der Treppe stehen und uns von Kiko verabschieden. Yuriko wünscht ihr eine gute Reise mit A-lex und Emma, ich sage erst nur Tschüs und winke, Kiko winkt zurück und dann will ich doch noch näher zu ihr kommen und um einen Kuss bitten, den ich sogleich bekomme. Yuriko bekommt auch einen, dann hebt A-lex sie hoch und stapft mit Handkarren und Emma in Richtung Bushaltestelle. Er trägt Kiko weg und sie lässt es zufrieden geschehen, fängt gleich an, etwas zu erzählen und dreht sich nicht mehr nach uns um. Ich kann den Kopf nicht abwenden; als sie von der Veranda aus nicht mehr zu sehen sind, gehe ich ins Haus und erhasche noch einen Blick aus dem Fenster – Kiko schaut nicht zurück. Sie ist bei ihren Eltern, sogar bei zweien, und ist zufrieden. So konkret fühlt sich gemeinsame Elternschaft nur selten an.

Danach räume ich die Küche auf: Stofftiere, Bücher, Malkreiden, Plastikfläschchen mit Plastikbuchstaben gefüllt, Papierschnipsel, Tupperschüsseln, Küchensiebe, ein Topf und die von A-lex auf Papier gemalte Herdplatte. Den Rest Dinkelmilch in ihrem Fläschchen und zwei angenagte Äpfel nehme ich mit in mein Zimmer, Äpfel esse ich im Laufe des Vormittages und die Milch kommt später in den Kaffee. Die anderen haben mir jeweils drei ganz tolle Tage allein gewünscht – ich werde sicher gut arbeiten können. Aber ich werde vor allem auch merken, was wir so ganz alltäglich für ein gutes Leben haben als Eltern mit Kind.

Wir haben es ja geschafft, nicht mal über unseren gemeinsamen Gemely-Urlaub zu bloggen. Wir sind mit dem Zug weit nach Italien gefahren, noch südlich von Rom. Hat alles bestens geklappt. Sandburgen gebaut, Pasta gegessen und viel gesehen. Spaziert und gelesen und ganz entspannt mit Kiko gewesen. Die gemeinschaftlich gesehen spannenden Herausforderungen liegen vor uns: Eine unserer Mitbewohnerinnen ist schwanger und nächstes Jahr wird es ein weiteres Kind geben. Der Vater lebt nicht in unserer Gemeinschaft, deswegen ist nicht ganz klar, wie das aussehen wird, aber wahrscheinlich wird das Baby meistens in unserer Gruppe sein und für Kiko so was wie ein Geschwisterkind sein. Es ist noch eine Weile hin und vielleicht können wir sie ja dafür gewinnen, darüber zu schreiben, wie es sich anfühlt, neben uns ein Kind zu bekommen. Wir haben auch angeboten, sie irgendwie in unser „Konzept“ zu integrieren, aber das scheint nicht angesagt zu sein. Joel wird dann der einzige Mensch in der Gruppe sein, der nicht verbindlicher Elternteil (im Sinne von festen Absprachen) ist (sie hat schon einen richtig guten Draht zu Kiko!), und sie hat bereits ausgesprochen, dass sie das Verschwinden der letzten reinen Erwachsenen-Räume befürchtet. In letzter Zeit haben wir dieser Gefahr etwas entgegengesteuert und zum Beispiel endlich mal Kinderbetreuung organisiert. Unsere wöchentlichen Treffen finden seit wenigen Wochen tatsächlich ohne Kind statt. Das ist uns offensichtlich schwergefallen, Kiko wegzugeben, jetzt ist sie zwei Jahre alt und macht die ersten Babysitting-Erfahrungen.
Wenn dann aber noch ein Kleinkind da ist, wird der Anspruch auf reine Erwachsenenräume jedenfalls herausgefordert. Ich würde mir wünschen, dass wir an diesem Anspruch nicht festhalten, sondern eher lernen, auch mal zwischendurch Entscheidungen zu treffen und (vielleicht nicht mit allen) emotionale Räume zu pflegen, ohne diese reinen Erwachsenenrunden einzufordern. Mit dieser Forderung machen wir uns wahrscheinlich nicht glücklich. Wenn ich das schreibe, hat das allerdings einen vielleicht bitteren Beigeschmack für die anderen, weil ich in unserer Gruppe sowieso schon immer meine Schwierigkeiten mit ritualisiertem emotionalen Austausch habe – aber wie soll das gehen, entspannte Räume für Erwachsene mit Babys und Kleinkindern in der Gruppe? Vielleicht hab ich mich auch noch nicht genug damit angefreundet, dass sich andere um unsere Kinder kümmern. Komisch, oder, dass ausgerechnet ein Co-Vater Probleme damit hat, sein Kind von anderen betreuen zu lassen…?